Mittwoch, 16. Juni 2010

.. Juni (1)

Hagen war kein atemberaubender Mann. Er selbst war sich auch nie wirklich darüber klar, was ihn nun vor anderen auszeichnen sollte, obwohl das durchaus ein Thema war, das ihn beschäftigte. Seine Wohnung war recht ansehnlich, aber auch nichts Außergewöhnliches. Sein Fernseher war groß, aber ohne Marke; seine Küche komplett ausgestattet, aber unedel. Das allermeiste war bereits vor seinem Einzug fertig eingerichtet worden. Für die Küche zahlte er nur eine gewisse Monatspauschale zuzüglich zur Miete. Hagen wurde etwas unwohl, wenn er darüber nachdachte, wie wohl die Wohnungen seiner direkten Nachbarn aussahen. Er vermutete manchmal, wenn er in die Küche ging um frischen Kaffee aufzusetzen, dass sämtliche Küchen dieses Wohnungsblocks seiner in Schnitt und Einrichtung exakt glichen. Manchmal hörte er den Dicken von Oben morgens zur Frühstückszeit, wenn auch er gerade sein Brötchen aufschnitt. Manchmal hörte er ihn spülen, wenn auch er gerade im Bad war.

Hagen befand, dass sein Name ebenso gewöhnlich war, wie die anderen, die er morgens im Vorbeigehen an den Briefkästen las. Er bildete sich auch nicht ein, dass sein Leben weniger trivial, als ihres war. Er ging davon aus, dass diese ihn als einen der Mieter dieses Hauses wahrnahmen, ohne ihm ein weiteres Attribut zuzumessen. Er hätte er einer anderen Person nicht erklären können, was ihn von den anderen Mietern unterschied. Was machte den Unterschied zwischen ihm – dem Individuum – und den anderen Menschen aus? Präziser: Warum durfte er denken nicht so zu sein wie "Sie".

Die zweieinhalb Minuten interessanten Gesprächsstoffs, die er seinen Freunden abgewann, als er dieses Thema bei einem Kneipenbesuch anschnitt, bevor man sich wieder in anderen Gesprächsfetzen verlor, machten Hagen das Paradoxon nur deutlicher. Seine Ausgangsfrage wurde durch den angebotenen Perspektivwechsel nur verkompliziert.

Denn das jeweilige Dasein als Individuum wurde von dem Jeweiligen nicht angezweifelt. Hagen wurde vor Augen geführt, dass die aller meisten Menschen von sich dachten nicht so zu sein, wie die anderen. Insbesondere dachten scheinbar auch Menschen so, die von anderen Menschen ganz unzweifelhaft den "anderen Menschen" subsumiert werden würden. Wo machten diese ihre Unterschiedlichkeit fest? Und von weit weniger großem Interesse stellte sich für Hagen die Frage, ob auch er von anderen Menschen ganz unzweifelhaft den "anderen Menschen" subsumiert werden würde.

Hagen war Student. Ein mittelmäßiger noch dazu. Er war Mitte zwanzig, als er sich so etwa Mitte Juni erschoss. Hagen war halbtrunken gewesen, als er sich die Hälfte der Kugeln eines vollgeladenen Revolvers in den Bauch und zuletzt in den Kopf jagte.

Sein Handy hatte noch etwa einen halbvollen Akku, als seine Mutter anrief, um sich nach ihm zu erkundigen. Sie hatte ein ungutes Gefühl.. so gegen Mittag..

Hagens Vater war ein notorischer Fremdgänger (so sich denn alle paar Jahre mal eine Gelegenheit bot), der frühmorgens zur Arbeit fuhr und pünktlich zur Primetime wieder nach Hause kam. Hagens Mutter war eine klassische Hausfrau, mit einer Leidenschaft für Schmuddelromane, die immer noch gerne Geschichten aus ihrer Studentenzeit erzählte, wo sie zusammen mit den anderen Mädels Demos wie die da in den 60igern organisierte, bevor sie ihr Studium abbrach.

Es war Nacht als Hagen die Augen öffnete. Man erklärte ihm, dass er im Krankenhaus sei und das alles schon wieder gut werden würde. Es sei Dezember und er hätte lange geschlafen.

Die erste Stunde interessierte ihn das alles nicht. Die zweite Stunde fühlte er sich einfach nur unglaublich unwohl, konnte aber noch nicht einmal fest machen welche Körperpartie eigentlich schmerzte, sodass er sich schlicht ein Duzend mal übergab. Die Dritte Stunde verbrachte er damit beim Personal um Besuch zu betteln.

Die Vierte Stunde damit von diesem das zu erfahren, was man nach einem 5monatigem Koma zu wissen verlangt.

So nahm er sich ein Dreivierteljahr Zeit, bevor er sich auch die zweite Gehirnhälfte, diesmal mit einem Gewehr, zerschoss. Eigentlich eine schöne Zeit. Der Januar war trocken. Hagen wickelte sich in der Erkenntnis ein, dass er nun wusste, was ihn von anderen Menschen unterschied... Auch wenn es nur ein entstelltes Gesicht und fehlende Gehirnmasse war. Diese materielle Greifbarkeit eines wirklichen Unterschiedes gab ihn ein Selbstbewusstsein, wie er es zuvor noch nie an den Tag gelegt hatte. Die Menschen starrten ihn an. Das Gefühl in einer Masse von Menschen unter zu gehen.. zu einem Teil von ihm zu werden.. von ihm verschlungen, verzerrt und assimiliert zu werden.. in diesem neuen Zustand spürte er es nie mehr. Sie konnten ihn nicht mehr verschlingen. Er hatte sich ihren Einflussbereich entzogen.

Jetzt verformte er die Menge. Ging er an Gruppen vorbei so wendeten sie sich um. Lief er über Plätze, so veränderte er die Masse. Ihren Fluss. Die anderen Menschen schafften es nicht an ihm vorbei zu gehen, ohne diesem Effekt zu unterliegen. Versuchten sie damit "umzugehen", ihn nicht anzustarren, so machte es Hagens Triumph nur deutlicher, denn ihre Verkrampfung war eine weitaus stärkere, tiefgehendere Beeinflussung, als er sie bei den Gaffern erreichen konnte.

Hagen fühlte sich neu geboren; aus sich selbst heraus. Er hatte angefangen die öffentlichen Verkehrsmittel seinem Fahrrad vorzuziehen. Er ging nun regelmäßig in Clubs, Bars, Lounges, Discos, Partys, zu Demos, Stadtfesten, Parks, Märkten, Einkaufszentren, Restaurants, Cafes, Arbeitsämtern, Museen, Kneipen, Lesungen, Ausstellungen, und Einstellungstests. Zu Anfang, war er der Überzeugung, er habe einfach eine Menge nachzuholen: für die Zeit, die er im Krankenhaus vor sich hin gammelte und für sein bisheriges, triviales Leben. Er brauchte jedoch nicht lange, um festzustellen, dass er eigentlich auch vorher kein Stubenhocker war. Zu all diesen Veranstaltungen und Plätzen des öffentlichen Lebens war er doch nur nicht gegangen, weil er keine Lust dazu hatte. Hagen war sich bewusst, dass er nie ein menschenscheuer Mann war. Er konnte ganz gut mit anderen Leuten umgehen. Auch jetzt noch. Das nun interessante war, dass auch andere Menschen sich genötigt sahen, gut mit ihm umzugehen. Sicher gab es auch jene, die aus sich selbst heraus einen gesunden Umgang mit ihm pflegten. Einige seiner alten Freunde schafften es sogar nach einer gewissen Zeit völlig diese Scheu vor ihm zu verlieren, die sie zuvor so schlecht zu verbergen verstanden.

Hagen hatte an ihnen wenig Interesse. Ihn faszinierte das Gespräch mit frischen Augen. Mancher hatte einen Anflug von Panik, mancher einen Ausdruck von Ekel im Gesicht, wenn dieses Wesen vor ihm stand. Es war stets der Mann mit dem halben Gesicht, der das Gespräch bestimmte, der das Thema wechselte, der den Ton angab.

Hagen begann rote Hemden zu tragen. Noch 7 Monate lang. Bis zum dem Tag, als er ein schneeweißes Hemd tiefrot färbte. Aus sich selbst heraus, selbst verformend, selbst lenkend. Hagen hatte nie die Chance ein kluger Mann zu sein; zumal mit einer Gehirnhälfte.

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